04 Apr 2019

Blick in die Projekte: Vortragsabend Anja Schindler

Die Arbeitsgemeinschaft Halle-Umland der Deutsch-Israelische Gesellschaft lädt am 11. April 2019 zu einem Vortragsabend mit Diskussion in die Franckeschen Stiftungen ein. Anja Schindler aus Berlin liest und erzählt an diesem Abend aus ihrem im Oktober 2018 erschienenes Buch „Die drei Leben des Meir Schwartz – das Schicksal meines Vaters“. Im Interview erzählt sie, was hinter dem Buch steht.

Karen Leonhardt, HALLIANZ Engagementfonds: Liebe Frau Schindler, wir freuen uns, Sie am 11.4.2019 in Halle (Saale) zu einem Vortragsabend „Die drei Leben des Meir Schwartz“ begrüßen zu dürfen, der von der Deutsch-Israelischen Gesellschaft organisiert wird. Grundlage ist ein von Ihnen im vergangenen Jahr veröffentlichtes, gleichnamiges Buch. Worum geht es in dem Buch?

Anja Schindler: Im Mittelpunkt steht die Geschichte meines Vaters, parallel dazu erfahren die Leser auch etwas über das Schicksal seiner Eltern, seiner Geschwister und weiterer Angehöriger, die Opfer der Shoa werden. Um dieser zu entkommen, flüchtete mein Vater aus Transsilvanien (Siebenbürgen) 1940 in die Sowjetunion. Als 25jähriger hofft er dort nicht nur das Arbeiter-und-Bauern-Paradies zu finden, sondern auch einen Staat, der den Juden Schutz, Freiheit und gleiche Rechte garantiert. Kaum hat er sowjetischen Boden betreten, muss er sich von diesen Vorstellungen verabschieden. Obwohl es seit der Machtübernahme der Bolschewiki und später der Gründung der UdSSR eine verfassungsmäßige Garantie auf Schutz vor politischer und religiöser Verfolgung für Flüchtlinge gibt, ist das unter der Herrschaft Stalins defacto aufgehoben: Mein Vater wird wegen illegalen Grenzübertritts zu drei Jahren Arbeitslager verurteilt, wird nach Workuta deportiert, später ist er Häftling im Gulag in Kasachstan. Erst 1947 wird er freigelassen, darf aber nicht in die Heimat zurückkehren, sondern muss als Verbannter in Kasachstan verbleiben. Dort lernt er meine ebenfalls in der Verbannung lebende Mutter kennen. In der Steppe Kasachstans werden mein Bruder und ich geboren. Erst 1956 bekommt unsere Familie die Erlaubnis zur Ausreise nach Berlin, der Geburtsstadt meiner Mutter. Das letzte Kapitel des Buches geht schließlich der Frage nach ob und wie er in seinem dritten Land heimisch wird und sein drittes Leben meistert.

Welche Motivation hatten Sie, die Geschichte Ihres Vaters zu veröffentlichen und verbinden Sie eine Botschaft damit an die Leser*innen?

Der Veröffentlichung gingen Jahre der Recherche in Russland, Kasachstan, Rumänien, Israel und Deutschland voraus. In all dieser Zeit war nicht eine Publikation das Ziel, sondern mein Interesse, mehr über das Schicksal der Familie zu erfahren. Nachdem das Buch über das Schicksal der Familie mütterlicherseits (… verhaftet und erschossen. Eine Familie zwischen Stalins Terror und Hitlers Krieg, Dietz Verlag Berlin 2016) erschien, konnte ich mich auf die väterliche Familie konzentrieren. Dass sich am Ende der Hentrich & Hentrich Verlag für diese Geschichte interessierte und eine Veröffentlichung möglich wurde, ist eine glückliche Fügung. Ob ich eine Botschaft habe, müssen die Leser entscheiden. Ich als Leserin möchte nicht belehrt oder bekehrt werden. Aber wenn ich nach der Lektüre mehr weiß als vorher, dann empfinde ich das als einen anhaltenden Gewinn. Wenn es meinen Lesern bei meinem Buch auch so gehen sollte, dann wäre ich höchst zufrieden.

Jüdisches Leben, säkulares, religiöses oder orthodoxes Leben, ist heute in Deutschland, auch in Ostdeutschland, im alltäglichen Leben kaum wahrnehmbar. Im gleichen Zuge ist aber in der letzten Zeit, die Zunahme eines diffusen oder konkreten Antisemitismus festzustellen. Sollten wir uns mehr damit auseinandersetzen und aktiver gegen Antisemitismus vorgehen? Was könnten aus Ihrer Sicht probate Mittel sein?

Ich denke, der Antisemitismus war nie weg, er war immer da, mal stiller, mal lauter. Für diese Überzeugung benötigen die Anhänger bekanntlich nicht einmal die Juden selbst. Antisemiten zu bekehren, halte ich für ziemlich aussichtslos. Auf jeden Fall ist das für mich keine Zielstellung. Viel wichtiger ist m. E. die Frage, wie es gelingt, eine Zivilgesellschaft so stark zu machen, dass sie wehrhaft gegen jede extremistische, menschenfeindliche und reaktionäre Gesinnung ist. Schließlich war nicht Hitler aus Österreich das Problem, sondern dass ihm Millionen Menschen – aus welchen Gründen auch immer – folgten, seine Vorstellungen und Ideen zur Realität werden ließen, in der dann schließlich auch das Töten von Millionen Menschen fast ein normaler Vorgang wurde. Kann sich wiederholen, dass Menschen wegsehen, wenn Nachbarn verfolgt, gedemütigt, entrechtet, ermordet werden? Verhindern könnte so etwas eine Zivilgesellschaft, die Anstand und Menschlichkeit, Toleranz und Solidarität lebt. Eine solche Gemeinschaft wäre der beste Schutz gegen Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Gelänge es uns allen, jeden Tag diesen Anspruch zu leben, würden wir wohl der Behauptung, aus der Geschichte lernen zu können, näherkommen.

Wir danken Ihnen ganz herzlich für das Gespräch!